Probekapitel Vorwort Dissertation

Geleitwort von Prof. Dr. Dr. h.c. Alfred Kieser

Direktvertriebe und Multi-Level-Marketing Unternehmen sind in Deutschland bisher wissenschaftlich wenig beachtet worden. Dies ist erstaunlich, nicht nur weil sie trotz eines strittigen Rufes zunehmend an Bedeutung gewinnen, sondern auch, weil es sich um ungewöhnliche Organisationen handelt: Ihre Außendienstmitglieder sind rechtlich selbständig, so dass zentrale Merkmale klassischer Organisationen wie ein hierarchischer Aufbau mit der dazugehörenden Weisungsbefugnis von Führungskräften oder ein Arbeitsvertrag, der das Verhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern maßgeblich reguliert, entfallen.
 
Bei der vorliegenden Studie von Claudia Groß handelt es sich somit aufgrund mehrerer Aspekte um eine Pionierarbeit: Sie durchleuchtet erstmals wissenschaftlich die Organisationsform Direktvertrieb in Deutschland. Ihre Arbeit verdeutlicht, welche verschiedenen Formen des Direktvertriebs existieren, welche Daten zu dieser Organisationsform vorliegen, was diese Unternehmen im Unterschied zu bürokratischen Organisationen kennzeichnet und auch, welche Kritik an (manchen) Unternehmen dieser ‚Branche’ geübt wird. Neben diesen Grundlagen zum Direktvertrieb in Deutschland bietet die Analyse eine überzeugende und beeindruckende Antwort auf die bisher weitgehend unerforschte Frage, wie Organisationen ohne Hierarchie und Weisungsbefugnis rechtlich selbständige Unternehmensmitglieder motivieren und steuern können. Für diese Analyse greift Claudia Groß auf zentrale Konzepte organisationaler Kontrolle zurück und nutzt diese in äußerst gelungener Art und Weise, um den internen Aufbau von Direktvertrieben zu verdeutlichen.
 
Mit ihrer Analyse trägt Claudia Groß nicht nur wesentlich zum Forschungsstand bei, sondern geht auch über den bisherigen internationalen Stand in der Direktvertriebsforschung hinaus. Während Direktvertriebe üblicherweise als ein einheitlicher Organisationstypus analysiert werden, wird durch den kontrastierenden Vergleich der Unternehmen deutlich, wie verschiedenartig ein Direktvertrieb organisiert und aufgebaut sein kann. Diese differenzierte Betrachtung ist besonders relevant, da der Direktvertrieb umstritten ist. Anlass dieser Kritik ist jedoch meist nicht die Organisationsform an sich, sondern einzelne Unternehmen, die beispielsweise eine ungewöhnlich starke Organisationskultur sowie einen von außen verwunderlich hohen Begeisterungsgrad loyaler Mitglieder aufweisen. Die vorliegende Analyse erklärt sehr anschaulich, was diejenigen Organisationen kennzeichnet, in deren Mittelpunkt nicht der Verkauf von Produkten, sondern eine starke Organisationskultur mit Wertvorstellungen wie ‚Gemeinschaft’ oder ‚Gerechtigkeit’ stehen.
 
Dieser ungewöhnliche und mutige Fokus auf die in Multi-Level-Marketing Unternehmen propagierten Vorstellungen, Werte und Ideale, also auf die Ideologien dieser Wirtschaftsunternehmen, ist Claudia Groß aufgrund ihrer umfangreichen empirischen Erhebung möglich. Für ihre Studie besuchte sie sehr viele Veranstaltungen, sprach mit zahlreichen Mitgliedern außerhalb der von ihr gehaltenen Interviews und arbeitete sich in eine beachtliche Menge populärer Literatur von, über und gegen diese Unternehmen ein. Der große Wert dieser umfangreichen Feldarbeit kommt jedoch vor allem zur Geltung, da Claudia Groß bereit und fähig war, sich auf ungewöhnliche Unternehmen und Menschen mit außergewöhnlichen Wertvorstellungen einzulassen. So gelingt es ihr, auch dem außenstehenden Leser die Faszination – im zustimmenden wie im kritisierenden Sinne – dieser Organisationsform äußerst eindrücklich zu vermitteln. Damit bietet ihre Analyse nicht nur wissenschaftlich wertvolle Einsichten und Erkenntnisse, sondern sie erlaubt auch einen fundierten Einblick in die Überzeugungswelten des Multi-Level-Marketing – eine Organisationsform mit ungewöhnlichen Strukturen, aber vor allem mit einer Vielzahl von Träumen, Hoffnungen und Idealen von einem besseren Leben.

Das Geleitwort ist erschienen in Groß, Claudia (2008): Multi-Level-Marketing: Identität und Ideologie im Network-Marketing. VS: Wiesbaden, Seite 13f.